Zug ins Winterwunderland
Der letzte Zug des Tages ist bereit zur Abfahrt. Draußen ist es -9°. Es ist fast dunkel. Der schneidende Wind treibt den Pulverschnee in Wolken mit 45 km/h über den Bahnsteig. Die Lampenmasten sind eisverkrustet. Ihr milchiges gelbes Licht gibt den Schneeverwehungen scharfe Kanten wie bei Sanddünen. Ich presse meine Schuhe gegen die Heizkörper im Waggon um die eiskalten Füße etwas aufzuwärmen. Seit die Lokomotive sich zur Rückfahrt wieder an das andere Ende des Zuges gesetzt hat und Dampf durch die Heizung gepumpt wird sind sie kochend heiß. Eine Dampflokomotive hat immer heißen Dampf zum Heizen. Ich gieße mir zum inneren Aufwärmen einen Tee aus meiner Thermoskanne ein.
Bahnhof Brocken vor der Abfahrt des letzten Zuges
Irgendwas da draußen in der Eiseskälte stimmt nicht. Das sich vor dem kalten Wind zusammenkauernde Zugpersonal hämmert mit langen Schlägeln gegen die Unterkante der Waggons. Offenbar sitzen die Bremsen fest. Vielleicht sind sie an den Rädern der Waggons festgefroren. Während der Fahrt baut die Lokomotive Druck in der Bremsleitung auf. Fällt der Druck ab, zum Beispiel wenn die Lok abgekoppelt wurde, dann legen sich die Bremsen an. Jedesmal wenn etwas an der Zusammenstellung des Zuges verändert wird muss eine Bremsprobe ausgeführt werden. Nicht auszudenken wenn bei dieser Strecke die Bremsen versagen. Von der Endhaltestelle der Brockenbahn auf 1125 m geht es für 34 km bis nach Wernigerode auf einer Höhe von 234 m konstant nur bergab.
Ein Ruck geht durch den Zug. Die Lok hat die Waggons einen halben Meter zurück gedrückt. Unter dem Waggonboden war ein Knacken zu hören. Die Bremsen haben sich gelöst. Ein Pfiff vom Schaffner, ein Pfiff von der Lokomotive, die ausgekühlte Mannschaft geht erleichtert an Bord und der Zug setzt sich bergab in Bewegung.
... und Alexisbad
Mit 1141 m ist der Brocken der höchste Berg in Norddeutschland. Durch seine Lage am Rande der norddeutschen Tiefebene hat er aber eher das Klima eines Zweitausenders in den Alpen. Wetterextreme sind eher die Regel als die Ausnahme. Es gab Jahre mit 221 Tagen Sturm (1956), einer maximalen Windgeschwindigkeit von 263 km/h (1984) oder 205 Tage mit Schnee im Jahr 1970. An durchschnittlich 300 Tagen ist der Gipfel in Nebel gehüllt. Dabei werden seltsame optische Effekte wie Halos beobachtet. Es gab aber auch Tage an denen man durch die exponierte Lage eine Sichtweite von über 200 km hat.
Diese Besonderheiten führten dazu dass der Brocken, im Volksmund Blocksberg genannt, schon früh von Sagen umwoben war. Insbesondere war er schon seit 1300 verschrien als Versammlungsort von Hexen und anderen Geisterwesen. Die optischen Effekte bekamen daher schon bald den Namen „Brockengespenst“.
Gemächlich ruckelt der Zug bergab. Mittlerweile ist es völlig dunkel geworden. Im schwachen Licht der Lokomotive und der Waggonbeleuchtung erscheinen die Bäume, die sich unter der Schneelast bücken, wie Gespenster, die nach dem Zug greifen. Dazu passt das Quietschen der Bremsen, das Knacken und Rattern der alten Waggons und die heulenden Pfiffe der Lokomotive. Die Spur von Rauch der nach binnen dringt könnte auch aus dem Fegefeuer kommen. Durch die Flocken des Schneetreibens sind tief unten Lichter auszumachen. Sie kommen aber nicht aus der Hölle sondern den Orten im Tal die dem ausgehungerten Reisenden hoffentlich bald Abendessen und Getränke vor die Nase stellen können.
Aufgrund all der Sagen wurde der Brocken schnell ein Subjekt der deutschen Literatur. Johann Wolfgang von Goethe bestieg den Gipfel dreimal. Seine erste Besteigung fand am 10. Dezember 1777 statt. Eine Winterbesteigung galt damals als gefährlich. Goethe wählte den Brocken als Handlungsort der Szene Walpurgisnacht in Faust I:
Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt oben auf.
Auch Heinrich Heine bestieg den Brocken anlässlich seiner Harzreise im Jahr 1824. Das folgende Zitat ist ihm aber zu Unrecht zugeschrieben:
Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine.
Ich kann Goethes Leistung heute noch schätzen. Ein kurzer Spaziergang durch den Schnee entlang der Bahnlinie ist trotz der Kälte schweißtreibend. Und dabei liegt noch nicht mal besonders viel Schnee für die Gegend hier und mein Spaziergang geht kaum bergauf. Die Schuhe sinken bei jedem Schritt 10 cm in das Pulver. Und ich habe moderne, wasserdichte und warme Schuhe und Kleider. Wie muss das damals vor 200 Jahren gewesen sein? Ob er wohl einen Träger dabei hatte?
Nachdem der sagenumwobene Gipfel schon bald von Touristen besucht wurde entstand der Plan eine Bahnstrecke zum Gipfel zu bauen. Im Harz bestond schon seit 1887 die erste Schmalspurbahn von Gernrode in das Selketal nach Mägdesprung. Die Gernrode-Harzgeroder Eisenbahn-Gesellschaft (GHE) verlängerte die Strecke bis Harzgerode, Hasselfelde und Eisfelder Talmühle. Ab dem Jahr 1897 hatte dann die Nordhausen-Wernigeroder Eisenbahn-Gesellschaft damit begonnen eine Bahnlinie von Nordhausen nach Wernigerode zu bauen. In Eisfelder Talmühle bestond dann Anschluss nach Gernrode. Der letzte Abschnitt der insgesamt 60 km langen Strecke von Drei Annen Hohne nach Benneckenstein wurde zusammen mit einer 19 km langen Abzweigung von Drei Annen Hohne zum Brocken am 27.3.1899 in Betrieb genommen. Mit der Südharz Eisenbahngesellschaft war in Sorge eine weitere Bahnlinie zwischen Tanne, Braunlage und Walkenried verbunden.
Nach 1945 lagen die Harzer Schmalspurbahnen zum größten Teil im grenznahen Bereich der DDR. Nur die Südharzeisenbahn war durch die Grenzziehung unterbrochen und wurde schon bald eingestellt. Die Linien der Gernrode-Harzgeroder Eisenbahn-Gesellschaft (GHE) mussten inklusive des Fuhrparks als Reparationsleistung in die befreundete UDSSR abgeliefert werden. 1949 wurden in der DDR alle Bahnlinien verstaatlicht. Die Deutsche Reichsbahn betrieb nun nicht nur die Harzquerbahn von Nordhausen nach Wernigerode sondern bald auch wieder die in Abschnitten wiederaufgebaute Strecke von Gernrode über Alexisbad mit Abzweigung nach Harzgerode, Stiege nach Eisfelder Talmühle die als Selketalbahn bekannt wurde. Nur die Strecke auf den Brocken wurde nicht mehr betrieben, da ab 1961 der Brocken zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden war. Er wurde für Überwachungs- und Spionagezwecke genutzt. Der Gipfel wurde von einer drei Meter hohen Sperrmauer umgeben und die sowjetischen Anlagen innerhalb dieses gesicherten Gebiets noch durch einen Doppelzaun abgeriegelt. Auf dem Gipfel befanden sich zwei leistungsfähige Abhörstationen, die den Funkverkehr in fast ganz Westeuropa erfassen konnten. Damit wurde der Brocken zum westlichsten Vorposten der UdSSR.
Die Deutsche Reichsbahn hatte für den Betrieb auf den Reststück des schmalspurigen Harzbahnnetzes mit wenigen Ausnahmen nur antiquierte Lokomotiven zur Verfügung, die zum Teil auf die Zeit des Streckenbaus von 1899 zurückgingen. Daher wurden in den fünfziger Jahren beim Lokomotivbau Karl-Marx in Babelsberg 17 neue, leistungsfähige Maschinen geliefert. Zusammen mit den alten Lokomotiven standen dem Betrieb damit insgesamt 27 Dampflokomotiven zur Verfügung. 25 davon sind heute noch vorhanden. Ein Versuch Standard-Dieselloks für die Schmalspurbahn anzupassen, ist mehr oder weniger gescheitert. Die Maschinen unterlagen bei der Fahrt derartigen Schwankungen dass sie bald den Spitznamen Harzkamel bekamen. Neben den Dampfloks sind heute noch einige davon für Schneepflug und Arbeitsdienste im Betrieb.
Nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands 1990 erklärte eine Protestbewegung den Brocken zum Ziel eines Protestmarsches. Das Ziel war den symbolischen Gipfel wieder zugänglich zu machen. In der Tat zogen die sowjetischen und deutschen Soldaten bis 1994 ab, die militärischen Anlagen und Zäune wurde abgebaut und das Gelände nicht nur renaturiert sondern auch zum Nationalpark erklärt. Das im Krieg zerstörte Brockenhotel wurde wieder neu errichtet. Heute wird der Gipfel jährlich von etwa 580.000 Touristen besucht. Einer, Benno Schmidt (1932–2022) – genannt Brocken-Benno – aus Wernigerode hat den Berg in den Jahren 1989 bis 2022 fast täglich bestiegen und kam schon im September 2020 auf die 8888. Besteigung.
Für die Deutsche Bundesbahn war das Jahr 1989 ein Alptraum. Hatte man sich bis zu diesem Jahr erfolgreich von allem getrennt, was zwar funktionell, aber nicht profitbringend war, hatte man nun von der Deutschen Reichsbahn mit einem Mal wieder so antiquierte Relikte wie Schmalspurbahnen und eine Vielzahl von Dampflokomotiven geerbt. Es würde Jahre dauern bis man geschafft hätte, alle diese Strecken still zu legen und das alte Material zu verschrotten. Die Ruinen davon sind noch heute vielerorts zu bewundern.
Eine Schmalspurbahn wie die Harzquerbahn wäre im fortschrittlichen deutschen Westen schon in den 1960er Jahren zum Tod verurteilt gewesen. Man wäre schon gar nicht in der Lage gewesen eine funktionierende Lokomotive als Ersatz für die nun schon mindestens 40, manchmal aber schon 100 Jahre alten Dampflokomotiven zu finden. Über der Harzquerbahn und ein paar ähnlichen anderen Schmalspurbahnen im neuen bundesdeutschen Osten hing das Fallbeil.
Nun fühlten sich die Ostgebiete schon bei der Wiedervereinigung vom Westen benachteiligt. Eine Einstellung der Bahnen hätte sicher auch eine weiter Benachteiligung des Tourismus in strukturschwachen Regionen bedeutet. Daher wurde beschlossen die Bahnen in den Bestand von regionalen Betreibern überzuführen.
Zwischenhalt in Stiege zum letzten Wasserfassen vor der Gipfelfahrt
Für die Harzquerbahn bedeutete das zuerst einmal eine Wiederinbetriebnahme der Bahnstrecke auf den Gipfel des Brocken. Selbst im Winter fährt dort hinauf fast stündlich ein Zug. Den vollen Zügen im Sommer ist es zu verdanken dass der Betrieb einigermaßen finanzierbar bleibt. Gleich zu Beginn wurde dabei beschlossen auch den Betrieb mit den alten Dampflokomotiven aufrecht zu erhalten und nur für die anfüllenden Pendlerzüge ein paar Triebwagen ein zu setzen. Des weiteren übernahm die Herzquerbahn auch noch die von der Deutschen Bahn stillgelegte Strecke von Quedlinburg nach Gernrode, die dazu sogar auf Schmalspur umgebaut wurde. Es gibt sogar Ideen für weitere Streckenerweiterungen.
Der nächste Morgen ist klar und die Sonne wirft schwache Strahlen auf die verschneite Bergwelt. Ich nehme den ersten Zug zum Gipfel. 140 t kann die Lokomotive den Berg hinauf ziehen, das sind 7 Waggons. Vor der Abfahrt im Bahnhof Drei Annen Hohne hat der Heizer gewaltig eingeheizt. Unter einer gewaltigen Dampf- und Rauchfahne hämmert die Lokomotive bergauf. Der Schall des Auspuffs trägt kilometerweit durch die stille Bergwelt. Früher hätte man den Zug wohl weder so weit gehört noch gesehen. Der Wald hatte den Zug versteckt.
Toter Wald im Hangbereich des Brocken
Heute hat man einen weiten, aber apokalyptischen Ausblick. 4 von 5 Bäumen im Harz sind tot. Die Monokultur des Fichtenwalds hat in niedrigen Regionen besonders unter Trockenheit und Hitze zu leiden. Dadurch sind die Bäume so geschwächt dass sie in Stürmen umbrechen oder durch Borkenkäferbefall eingehen. In der Hitze können sich auch Waldbrände besser ausbreiten. Im Nationalpark Harz hat man die toten Bäume liegen gelassen. Sie dienen als Lebensraum für Tiere und als Nahrung und Dünger für neuen Bewuchs. Aus den Ruinen des alten Monokulturwaldes soll ein gesunder Mischwald entstehen.
Dieser Ansatz ist kontrovers. Die Nationalparkverwaltung, Forstwissenschaftler und Ökologen, die es eigentlich wissen sollten, stehen Politikern hauptsächlich aus dem rechten Spektrum gegenüber. Sie wollen das tote Holz aus dem Wald räumen um Feuer und dem Borkenkäfer das Leben schwerer zu machen. Die Gegenseite argumentiert dass so große Mengen an Totholz schon praktisch gar nicht entfernt werden können. Und dann bleibt eine Brache zurück, in der alles Leben dem Wind, Erosion durch sintflutartigen Regen und im Sommer ungeschützt der Hitze ausgesetzt sind. Durch das viele tote Holz kann Rotwild auch nicht so leicht an die Sprösslinge junger Bäume kommen. Birken, Fichten und Ebereschen können in 10-15 Jahren 5 m wachsen. Dann wäre der Zug schon bald wieder im Wald verschwunden.
Als die Lokomotivfabrik Karl Marx in Babelsberg 1954 an die Konstruktion neuer Lokomotiven für die Harzquerbahn ging dachte wohl niemand daran dass diese Maschinen noch 70 Jahre später im Einsatz sein würden. Man hatte auch nicht gefragt ob sie für eine 34 km lange anstrengende Bergfahrt geeignet sind. Dass der Betrieb bei Frost, Eis, Sturm und Schnee trotzdem reibungslos funktioniert ist sicher dem engagierten und fachkundigen Personal im Zug und in den Werkstätten zu verdanken. Während im Flachland die Lokführer der Deutschen Bahn wieder durch ihren grössenwahnsinngen Gewerkschaftsboss aufgefordert werden, ihn bei seinem Machtkampf durch Streiks zu unterstützen, stehen sie in der Kälte und fahren.
Jeden Morgen fährt erst eine Diesellok mit einem Schneepflug die Strecke auf den Berg ab um sie von Schneeverwehungen zu befreien. Mittlerweile hat die Verkäuferin das Fahrkartenbüro im Bahnhof geöffnet, ein Traktor beginnt den Schnee von den Bahnsteigen zu räumen und Männer und Frauen in orangen Warnwesten sorgen dafür das die Weichen von Schnee und Eis befreit sind. Bei solchen Gelegenheiten würden die streikenden Kollegen der großen Bahn im Tal dann lieber mal gleich den Zugbetrieb stilllegen wegen betrieblicher Mängel. Hier bemüht man sich auch die Bahnhöfe in einem ordentlichen, einladenden Zustand zu halten. In allen Bahnhöfen an der Brockenstrecke werden Fahrkarten verkauft, Bedienstete helfen und geben Auskünfte und es gibt geöffnete kostenlose Toiletten. Man kann froh sein dass der Betrieb nicht mehr von der Staatsbahn betrieben wird, die solche Annehmlichkeiten schon vor 50 Jahren zu überflüssigen, Kosten verursachenden Attributen erklärt hat.
Nach jedem Stück Bergfahrt muss der Wasservorrat der Dampflokomotiven angefüllt werden. Dazu müssen die entsprechenden Wasserkräne auch im Winter betriebsbereit und vor Einfrieren geschützt werden. Während nach der Ankunft im Bahnhof der Heizer den Deckel zum Wasserkasten der Lok öffnet, den Wasserkran über die Öffnung schwenkt und mit dem großen Handrad die Wasserzufuhr aufdreht, beginnt der Lokführer mit dem Abölen der beweglichen Teile. Dabei prüft er ob die Lager die richtige Temperatur haben. Eine Dampflokomotive hat eine Unzahl von Gleitlagern die sich sofort festfressen wenn sie nicht ständig geölt und gefettet werden. Beim heutigen Wetter ist der Raum zwischen den Rädern, Stangen und Bremsen mit Schnee verkrustet.
Auf dem 19 km langen Weg bergauf macht der Zug schon nach 15 min wieder eine Pause. Im Bahnhof Schierke wird nochmals Wasser nachgefüllt. Das ist auch der höchste Punkt den man mit dem Auto noch erreichen kann. Die Lokmannschaft fühlt nochmals nach allen Lagern.
Bevor der Zug dann weiter den Berg hochfahren kann, muss erst wieder Kohle nachgelegt werden. Und auch während der Fahrt auf der schaukelnden Maschine muss immer wieder zur Schaufel gegriffen werden. Der Führerstand ist während der Fahrt auch immer offen. Der kalte Fahrtwind schneidet der Mannschaft ins Gesicht die nur dann freie Sicht auf die Strecke hat, wenn sie sich aus dem Fenster der Kabine lehnen.
Es wird noch kälter. Der Dampf der Lokomotive wird schnell verweht. Die wenigen Stämme, die hier noch stehen, sind mit glitzernden Eiskristallen bedeckt. Die Baumleichen am Boden werden zu schneebedeckten Gerippen, die den Hang in ein undurchdringliches Labyrinth verändert haben. Aber selbst jetzt im Winter sind Wanderer unterwegs. Eine ganze Gruppe läuft mit nackten Oberkörper durch den Schnee. Man kann annehmen dass sie von innen aufgeheizt sind. Jedenfalls leuchten ihre nackten Körper rot im Schwarz-Weiss der eisigen Landschaft.
Kurz vor dem Gipfel gibt es an einer vereisten Bude noch eine Ausweichstelle
Ist der talwärts fahrende Zug aus dem Weg kann der Bergzug anfahren
Näher am Gipfel, wo die Temperatur auch im Sommer bescheiden bleibt, hat der Fichtenwald überlebt. Die Bäume stehen gebückt unter der Last des Schnees. Je näher man dem Gipfel kommt desto kleiner werden sie. Schnee und Wind haben sie in surreale Gebilde verwandelt. Verzaubert zu weißen Statuen von Gnomen und Waldgeistern.
Vereiste Bäume am Gipfel
Schließlich erreicht der Zug den Bahnhof am Gipfel. Alles hier ist eisverkrustet. Der Schneepflug hat die Gleise freigeräumt und wohl auch eine Mannschaft abgesetzt die die Bahnsteige für die wenigen Reisenden frei geräumt hat, die hier die heimelig warmen Waggons verlassen und sich der Kälte und dem schneidenden Wind stellen. Die Lokomotive manövriert vorsichtig über die Gleise. Die Weichen müssen erst von Schnee und Eis befreit werden bevor sie umgestellt werden können.
Außer dem Bahnhof und dem Hotel gibt es hier oben noch eine Wetterstation, einen Sendeturm, eine Schutzhütte und ein Besucherzentrum des Nationalparks. Die meisten Besucher kommen wegen der Aussicht. Und heute haben sie Glück. Es ist zwar kein Tag von strahlend blauen Himmel, aber die Luft ist klar mit einer Sichtweite von über 100 km in die norddeutsche Tiefebene, die sich zu Füssen des Berges ausbreitet.
Insgesamt betreiben die Harzer Schmalspurbahnen ein Netz von 140 km. Da die anderen Strecken weit weniger frequentiert sind teilen sich die Dampflokomotiven dort die Arbeit mit ein paar Triebwagen. Wie abgelegen und verarmt die Gegend hier war erkennt man schon an den Ortsnamen: da gibt es einen Ort namens Elend. Der Nachbarort heißt Sorge. Dazwischen ist lange Zeit nichts.
Der Zug von Drei Annen Hohne nach Eisfelder Talmühle hat 4 Waggons. Einen für jeden Fahrgast. Hier ist kein Schneepflug gefahren und die 60 t Lokomotive räumt sich selbst ihren Weg frei. Der Zug überquert die Hochfläche am Scheitel des Gebirges und folgt dann dem kurvenreichen Tal des Tiefenbaches. Jedes Gebäude hatte hier eine Haltestelle. Es gab zwei, Sophienhof und Tiefenbachmühle. Häuser sind keine zu sehen. Der Zug hält hier nur auf Bedarf. Und tatsächlich steigt eine Familie mit Baby ein, die bis hierher gewandert sind. Sie machen sich gleich an das Wechseln der Windel. Ich gehe nach draußen auf die offene Plattform am Ende des Waggons.
Eisfelder Talmühle ist der Umsteigebahnhof zur Selketalbahn, der Bahnstrecke die mit kurzen Abzweigungen nach Hasselfelde und Harzgerode über weitere 60 km nach Gernrode und Quedlinburg führt. Außer dem Bahnhof gibt es hier nichts. Hier wartet ein Triebwagen auf mich. Der Fahrer begrüßt mich wie einen alten Bekannten. Man fällt auf wenn man hier mehrere Tage unterwegs ist. In 1,5 Stunden bringt er mich ins 30 Bahnkilometer entfernte Alexisbad. Auf der ganzen Strecke bin ich der einzige Fahrgast. Zuerst klimmt der Zug entlang des Tals der Bere wieder auf die kahle Hochebene des Harzes. In Stiege wird dann erst einmal ein Abstecher ins 4 km entfernte Hasselfelde gemacht. Auch außerhalb des Zuges ist keine Menschenseele zu sehen. Aber trotzdem sind in den verlassenen Bahnhöfen von Hasselfelde und Stiege die Bahnsteige geräumt.
Von hier folgt die Bahn dem Tal der Selke abwärts. Nachdem 1945 die hier Bahnanlagen als Reparationsausgleich an die Sowjetunion abgegeben werden mussten war das Netz der Harzer Schmalspurbahnen in zwei Teile getrennt. Die kleinen Orte Güntersberge und Straßberg hatten ihren Bahnanschluss verloren. Es gab aber einige volkseigene Betriebe im Tal die beliefert werden mussten. So wurde die Bahn wieder aufgebaut. Güterwagen der Hauptbahn werden bei einer Schmalspurbahn dann auf sogenannte Rollwagen oder Rollböcke verladen und sozusagen huckepack als Ladung mitgenommen. Die kleinen zweiachsigen Güterwagen konnten auf diese Weise leicht transportiert werden. Inzwischen kommen zweiachsige Güterwagen kaum noch vor, und ihre modernen, schweren und langen vierachsigen Nachfolger sind auf den engen Kurven einer Schmalspurbahn schlecht zu transportieren. Aber auch die Industrie im Selketal ist mit der Wiedervereinigung mehr oder weniger verschwunden. Einen Bahnanschluss brauchen die Überlebenden auch nicht mehr.
Kreuzung des Triebwagens mit dem Dampfzug in Strassberg
Auch in Alexisbad, ein Ort der nur aus zwei Hotels besteht, gibt es wieder eine kurze Stichstrecke nach Harzgerode. Der Ort liegt oberhalb des Tals. Der Zug dorthin ist wieder mit einer Dampflokomotive bespannt. Gebaut 1939 von Krupp in Essen ist sie seither mehr oder weniger ohne Unterbrechung in diesem Tal unterwegs. Auf den verschneiten, glatten Gleisen hat die bullige Maschine noch Mühe ihre drei Wagen die kurvige Steigung hoch zu ziehen. Für die Rückfahrt nach einer kurzen Pause muss sie dann an das andere Ende des Zuges gesetzt werden. Ein Schneeräumtrupp ist dabei die Bahnsteige frei zu schaufeln. Aber die Weiche ist noch vom Schnee verstopft. Mit einem Besen versucht die junge Schaffnerin den Schnee aus der Weiche zu kehren. Schließlich hilft der Lokführer mit einem Hammer.
Es schneit immer mehr. Die offenen Plattformen an den beiden Enden der Waggons sind vereist. Doch auch dafür ist vorgesorgt. Die Schaffnerin kommt mit einem Eimer mit Split und sorgt dafür dass die mittlerweile zwei Fahrgäste nicht von der Plattform rutschen. Nach einer guten weiteren Stunde für 26 km wird in Quedlinburg wieder der Anschluss an die weite Welt der großen Bahn erreicht.
Endstation zum Umsteigen in Quedlinburg
Die Arbeit an einer Dampflok ist auch nachts, wenn der Zug endlich seine Fahrgäste im Bahnhof abgeliefert hat, noch nicht beendet. Dann muss nicht nur der Vorrat an Kohle und Wasser ergänzt und das ganze Abschmierprogramm von neuem absolviert werden, sondern nun muss auch das Feuer gereinigt und für die nächtliche Pause verkleinert werden, die Schlacken müssen aus dem Kasten unter dem Rost entfernt und die Ascheteilchen aus der Rauchkammer hinter der großen runden Tür in der Front des Kessels geschaufelt werden. Und alle diese Arbeiten finden auch bei Kälte, Eis und Schneetreiben im Freien statt.
In de Schweiz und Österreich gibt es noch einige Bergbahnen, die hauptsächlich oder ausschließlich mit Dampflokomotiven betrieben werden. Aber keine dieser Zahnradbahnen verkehrt im Winter. Sogar im Vereinigten Königreich der historischen Bahnen, wo viele Strecken im Sommer täglich und professionell betrieben werden, sind im Winter die Kessel kalt. Damit ist die Harzquerbahn wahrscheinlich mittlerweile weltweit die einzige ganzjährig verkehrende dampfbetriebene Bergbahnstrecke. Es dürfte aber auch im Sommer weltweit wenig andere Bahnen geben wo gleichzeitig bis zu 10 Lokomotiven pro Tag im Betrieb stehen.
Während zur gleichen Zeit im Alpengebiet die Skifahrer Schlange an den Liften stehen, keine Kosten für Skipässe, Hotels und lange Anreise scheuen, sind die Hotels im Harz leer und in manchen der Züge, die man mit dem Deutschlandticket mehr oder wenig gratis benutzen kann, bin ich der einzige Fahrgast. Draußen liegt hier oft mehr Schnee als in alpinen Skigebieten, wo man mit Kunstschnee nachhelfen muss damit sich überhaupt das Band einer weißen Piste über die braunen Wiesen zieht. Und wenn dann Schnee liegt muss man sich Piste und Hütten mit schon am Morgen betrunkenen Pseudosportlern teilen, die eine Gefahr für die Menschheit darstellen. Hier bieten sich endlose Schneeflächen zum Langlaufen, für Touren mit Schneeschuhen oder einfach für Winterwanderungen an.
Es ist eklatant wie leicht das Marketing der Menschheit etwas als schick, modern oder in Mode darstellen kann. Während der Harry Potter Zug mit seiner Dampflok im Sommer in Schottland oft schon am Anfang einer Saison vollständig ausgebucht ist und die Fahrgäste aus der ganzen Welt eingeflogen kommen, bleibt der viel spektakulärere Betrieb am höchsten Berg des Harzes unentdeckt. Nur Eisenbahnfreunde wissen, was sie hier finden können. Im Zug auf den Brocken finden sich Engländer, Inder und Südamerikaner. Aber vom großen Ansturm der Massen ist der Harz zumindest im Winter bisher verschont geblieben.
Neben den Harzer Bahnen musste die Deutsche Bahn bei der Wiedervereinigung 1990 zwischen Ostsee und Erzgebirge noch einige weiter dampfbetriebene Schmalspurbahnen übernehmen. Alle sind auch heute im Winter noch in Betrieb. Die Bahnen an der Ostseeküste zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn und auf der Insel Rügen können den Ansturm der Fahrgäste im Sommer kaum bewältigen. Vier weitere Bahnen in Sachsen fahren alle in touristisch viel besuchten Gebieten und sind Teil der Dampfbahnroute Sachsen. Allerdings hat keine dieser Bahnen ein vergleichbar umfangreiches Netz und abwechslungsreichen Betrieb wie die Harzer Schmalspurbahnen.
Quellen:
No comments:
Post a Comment